Wie schnell geraten wir Menschen in die Dunkelheiten des Lebens, wenn der Augenblick in Vergessenheit gerät. Ist das Hier und Jetzt erst einmal verloren, weil der Schmerz, die Trauer, die Verletzung, die Enttäuschung so unsagbar groß geworden sind, rutscht man aus der Gegenwart sehr schnell in eine Zukunft hinein, die sich aus Ungewissheiten und düsteren Vorstellungen speist. Was wird nur werden? Ist nun alles aus und vorbei? Wird es so leidvoll weitergehen oder vielleicht sogar noch schlimmer kommen? Derartige Zukunfts-gedanken speisen sich aus gegenwärtig Erlebtem und vergangen Erfahrenem.
Wie sollte es anders sein?
Brauchen wir, braucht unser Ego diesen Blick in die Zukunft? Ist das Absichern unserer Existenz etwas, was uns in die menschliche Wiege gelegt wurde? „Der Kluge sorgt vor:“ Vorsorge, damit das Überleben des Ichs gesichert ist. Vorräte schaffen an Nahrung, an Tauschmitteln wie Geld, an Gesundheit und anderem mehr. Sorgen für ein Morgen, über das wir heute nur spekulieren können. Nun gehört zur menschlichen Existenz allerdings mehr als Gesundheit, Geld und Nahrung, um sagen zu können, das bin ich. Wo liegt meine Identität? Was macht mich aus als Mensch? Worin bin ich echt?
Der Psychologe H. G. Petzold spricht davon, dass unsere Identität auf 5 Säulen ruhen würde (Petzold HG. Integrative Therapie. Modelle, Theorien u. Methoden für eine Schulen übergreifende Psychotherapie. 1992; Band 2: Klinische Theorie. Paderborn): 1 Körper und Gesundheit, 2 soziale Beziehungen, 3 Arbeit und Leistungsfähigkeit, 4 materielle Sicherheit, 5 Werte und Ideale. Jetzt kann man sich gut vorstellen, dass es übel sein könnte, wenn alle fünf Säulen zur gleichen Zeit, durch besondere Lebensumstände verursacht, einknicken würden. Oder es könnte sich als ungünstig erweisen, wenn eine tragende Säule alle anderen in ihrer Größe so überragt, dass sie im Prinzip die Identität alleine tragen müsste. Man stelle sich vor, wenn diese Säule schwächelt aufgrund einer Lebenskrise, was dann unerwartet auf den Rest zukommt? Oder könnte es nicht auch sein, dass nicht alle Säulen, aus welchen Gründen auch immer, sich in einem Leben herausbilden? Spielen Sie doch einmal ihre persönliche Variante durch.
Was dann?
Immer, wirklich immer, bleibt der Blick auf den Augenblick. Es ist das einzige, was uns wirklich gehört und zugleich Trost spenden kann. Der Augenblick ist es, der uns „sein“ lässt. Er scheint zeitlos zu sein. Es gibt nur ihn allein. Vielleicht wird erst im Erleben des Augenblicks deutlich, wer wir wirklich sind. Energie, die sich materialisiert hat im Augenblick. Geist, der sich inkarniert und menschliche Gestalt angenommen hat. Ein Akt der Schöpfung. Evolutionär. Sich entwickelnd. Mit oder ohne Gottesbegriff, je nach persönlichem Bedürfnis. Werte und Ideale danach auszurichten, gemäß Petzold der 5. Säule entsprechend, wäre eine gute Vorsorge, wenn in einer Lebenskrise sonst alles einzubrechen droht. Aber auch in einer Krise sich darauf (wieder) zu besinnen, könnte heilsam sein.
So könnte es sein.
Der Psychologe C. G. Jung schreibt in seinen Erinnerungen, Träumen, Gedanken (aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé, Olten 1971) über eine Reise nach Kenia und Uganda (1925): „Der Augenblick, in dem es Licht wird, das ist Gott. Der Augenblick bringt die Erlösung. Es ist ein Urerlebnis des Momentes, und es ist bereits verloren und vergessen, wenn man meint, die Sonne sei Gott.“ Der Augenblick, in dem es Licht wird, bringt die (göttliche) Erlösung. Ob ich „Gott“ in meinem Leben begrifflich dafür einsetzen möchte oder auch nicht, bleibt persönliche Entscheidung. Es bleibt in jedem Fall die durch menschliche Erfahrungen begründete Hoffnung, durch den Zauber des Augenblicks, von seinen Lebenskrisen wieder und wieder erlöst zu sein.
Der Augenblick bringt die Erlösung.
Der Moment der Genesung. Das freundliche Wort nach einem Streit. Der Händedruck als Geste der Versöhnung. Die Berührung als Zeichen von Zuneigung. Der liebevolle Blick als Zeichen des Verstehens. Das Lachen nach einer Anspannung. Die Freude nach einem Leid. Die Aufheiterung nach einer Trübnis. Das Wiedersehen nach einem Abschied. Das Verstehen nach einem Missverständnis.
Vielleicht fallen Ihnen persönliche Erfahrungen ein?