Ein ungleiches Paar. So glaubt man. Vor allem, wenn man im eigenen Innern darauf trifft. Wer lässt schon gerne bewusst das Gegenteil von Stärke bei sich zu? Immerhin hat Stärke ja den Vorteil, sich damit schützen zu können. Stark sein bedeutet, nicht so leicht angreifbar zu sein. Stärke schützt vor Übergriffen. Mag ja in vielen Fällen so sein. Bis man vielleicht auf einen Stärkeren trifft und man erlebt das Gegenteil. Was gilt es eigentlich zu schützen? In der Regel genügt alleine schon das Gefühl, mit seiner Schwäche in Verbindung zu kommen, um eine Angst in sich hochkommen zu sehen. Davor sucht man Schutz. Furcht wird zum Begleiter. Denn Angst hat jeder schon einmal erlebt in seinem Leben. Ihre körperlichen Symptome sind unverkennbar und in guter Erinnerung verblieben. Davor möchte man sich schützen. Meist unbewusst. Ist doch verständlich oder?
Schwäche zu zeigen benötigt Stärke
Die große Chance, eigene Schwäche für sich zuzulassen, besteht darin, ihr aus der Position der Stärke zu begegnen. Es bietet die Gelegenheit, sie genauer kennenzulernen, bevor sie ungewollt auf einen zukommt. Das geht manchmal schneller als man denken kann. Sie kommt sowieso. Denn traumatische Geschehnisse treten meist unverhofft auf. Krankheit. Leid. Trauer. Verletzung. Verlust. Sie überraschen nicht nur durch ihr Erscheinen, sondern auch durch ihre eigene Sprache. Diese bleibt oftmals unverständlich, weil man sie vorher nicht kennengelernt hat. Der Verstand gerät in Verzweiflung. Es ist nicht mehr zu verstehen, was die Gefühle sagen wollen. Mission impossibel. Auftragsausführung unmöglich. Botschaft kommt nicht an. Schwäche trifft auf Schwäche. Bäng.
Licht und Schatten
Der Schweizer Psychiater C. G. Jung (+1961) spricht in seiner Theorie der analytischen Psychologie modellhaft unter anderem von „Persona“ (lat. Maske), dem nach außen gerichteten Aspekt des Ich-Bewusstseins, und ihrem „Schatten“ als Gegenpol. Die Auseinandersetzung mit diesem Schatten sei eine wichtige Voraussetzung zur Ganzwerdung der eigenen Persönlichkeit. So oder so wird man früher oder später immer auf beide Gegenpole treffen. Light meets shadow. Licht trifft auf Schatten. Gut ist es, wenn man den Zeitpunkt des Kennenlernens selbst mitbestimmen darf. Licht kann nicht ohne Schatten existieren. Stärke nicht ohne Schwäche.
Training hilft
Es scheint ähnlich wie im Sport zu sein. So wie ausgewogenes Training vor Muskelkater schützen kann, so hat das Einüben - im Sinne von Zulassen des ungewollten Schattens (Schwäche) - das Potential, vor allzu heftigem Kontakt mit den Kehrseiten des Lebens zu schützen. Man kennt sich sozusagen und hat den Umgang miteinander erlernt. Kann von Vorteil sein. Deshalb lieber mit dem Training beginnen, wenn man sich stark fühlt. Wer trainiert schon gerne, wenn er kräftemäßig am Boden liegt? Jeder, den es mal ernsthaft erwischt hat an Körper oder Seele, kann ein Lied davon singen. Im schlimmsten Muskelkater zu trainieren, ist übel. Im Psychokater ebenso.
Wenn es trotzdem geschieht
Dennoch geschieht es wieder und wieder, dass das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Zu verführerisch ist die Position der Stärke oder vielleicht war die Übung im Umgang mit der Schwäche im bisherigen Leben - aus welchen Gründen auch immer - nicht ausreichend. Jetzt gilt es, nicht gleich zu verzweifeln. Denn erfahrungsgemäß hilft es, der Stärke sodann in einem menschlichen Gegenüber zu begegnen. Sich auf die Suche nach einem Menschen machen, dessen Stärke nicht dominant und machtvoll erscheint, sondern die Ausstrahlung hat, dass Stärke und Schwäche bei ihm integriert sind, im Sinne von zugehörig und anerkannt. An dieser Stärke kann man sich orientieren und aufrichten. Authentizität, Wahrhaftigkeit spüren. Gesucht ist der Fels in der Brandung. Das Haus, das nicht auf Sand gebaut ist. Denn einer eigenen Schwäche zu begegnen, gelingt am besten aus der Stärke heraus. Diese ist zu finden. Immer. Bei sich selbst oder einem anderen. Manchmal geschieht dies erst in der Krise. Es ist aber nie zu spät dafür. Wirklich nicht. Deshalb bitte nicht die Hoffnung verlieren.
Ihnen alles Gute auf all ihren Wegen, den starken und schwachen, im Licht wie im Schatten, gerade in den derzeit wechselhaften Tagen des Hochsommers. Das wünscht Ihnen von Herzen, die Praxis für Psychotherapie, Barbara Schlemmer, Dipl. Psychologin.