Wie wir werden, wer wir sind

Wie wir werden, wer wir sind - Die Enstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz - Eine Buchempfehlung der Praxis für Psychotherapie, Barbara Schlemmer, Dipl. Psychologin
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Wie wir werden, wer wir sind - Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz (Joachim Bauer, München, 2022)

 

Ein interessanter Ansatz, um der Entstehung und der Bedeutung des menschlichen Selbst näher zu kommen. Das „Selbst“ kann durchaus ein sperriger Begriff sein. Deshalb die berechtigte Frage, was sich unter dem „Selbst“ verstehen lässt? Das „Selbst“ wird diskutiert im Sinne des zentralen Teils der menschlichen Persönlichkeit, das Menschen zum Individuum macht. Gemeint ist damit vor allem der zur Selbstbeobachtung fähige, fühlende, denkende und handelnde Anteil menschlicher Psyche: „Das bin ich!“

 

Dieser Anteil sei bei der Geburt noch nicht vorhanden, weil erforderliche Hirnstrukturen noch nicht gegeben seien. Er entstehe erst im Kleinkindalter nach und nach mit entsprechenden Hirnreifung. Erste Anfänge seien allerdings bereits im Kleinkindalter < 24 M. beobachtbar.

 

Das „Selbst“ im Menschen brauche also zunächst als Grundvoraussetzung einen Ort, indem es sich physikalisch verorten kann. Was einleuchtet, aber natürlich die anschließende Frage aufwirft, wie es denn gefüllt werden kann, wenn es schon nicht per Geburt - ähnlich wie ein Instinkt - aufgrund der fehlenden Strukturen übermittelt werden kann.

 

Darum geht es u.a. in diesem Buch.

 

Grundlegende Gedanken wie „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Martin Buber, 1923) und „Überhaupt können wir bemerken, dass die Seelen der Menschen sich gegenseitig einander wie Spiegel verhalten“ (David Hume, 1740) führen in die These hinein, dass diese Informationen durch gesellschaftliche Resonanz zugeführt werden, ähnlich vielleicht vorstellbar wie eine Computerhardware eine Software erhält, deren Datenbanken zunächst aus fremden Quellen gefüttert werden müssen und deren Verknüpfungen ebenso fremder Hilfe benötigen.

 

Resonanz als Quelle ist vielleicht gut verstehbar über das im Buch aufgeführte Beispiel zweier gleich gestimmter Gitarren, die wenn sie sich in einem Raum befinden und eine von beiden anklingt, das Gegenüber in gleicher Tonklange erklingt ohne selbst an den Saiten berührt worden zu sein.

 

Übertragen auf den Menschen ließe sich auch stark vereinfacht mit dem Volksmund sagen: „So wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen.“

 

Jedenfalls sei es so, dass der Säugling noch keinen Ich-Sinn und auch keine Orientierung in die hineingeborene Welt habe. Primäre Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, primäres soziales Umfeld…) seien die, die die ersten wichtigen Daten liefern würden. So würde sich durch einen sogenannten ersten vertikalen Selbstransfer das „Ich“ in den ersten 24 Lebensmonaten herausbilden. Das „Du“ der gegenüberliegenden Person entstehe erst durch einen zweiten vertikalen Selbstransfer zwischen dem 24. Und 36. Lebensmonat. Erst dann könne sich in der Folge so etwas wie der „innere Beobachter“ in der Psyche bilden.

 

Das „Zwei-Perspektiven Selbst“ des „Ich“ und „Du“ würde durch den Perspektivwechsel des inneren Beobachters ab dem 36. M. zu einem „Drei-Perspektiven Selbst“, welches mit dem inneren sich bereits gebildeten Motivationssytem („ich will“) auf direkte Weise verbunden sei.

 

Motivationssytem und Selbstsysteme würden in Kombination mit dem körpereigenen System der Spiegelneuronen (Empathiefähigkeit) durch „horizontale Ansteckung“ dafür sorgen, dass ein horizontaler Selbstransfer (Datenmaterial und Verknüpfungen) im Sinne eines Resonanzverhaltens sich einstellen würde.

 

Fragen wie „Wer bin ich?“ würden auf diese Weise über das „Du“ des Gegenübers beantwortet ebenso wie die Fragen „wie ich denn als Mensch, als Person so sei?“ oder „welche Qualitäten ich denn habe und was mich als Mensch, als Person ausmache.“

 

Das da auch einiges schieflaufen kann, wird völlig klar. Wer hat schon perfekte Vorbilder? Gibt es etwa perfekte Eltern, Erzieher, Lehrer? Man merkt, welch spannender Lesestoff sich bietet.

 

Ein äußerst spannender Ansatz, der hier erörtert, ausgeführt und ausführlich beschrieben wird, geschrieben von einem Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeuten.

 

Klare Leseempfehlung.

 

(Taschenbuch) 255 S.

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Tiefer ins Thema schauen (CC0)

Wer mehr über das Resonanzphänomen wissen möchte, ist auch sehr gut bedient mit den Ausführungen des Soziologen Hartmut Rosa. Etwas schwierige Kost und sehr umfangreich. 815 Seiten durch die man sich erst einmal durcharbeiten muss. Dennoch auch hier: klare erweiterte Leseempfehlung:

Hartmut Rosa - Resonanz
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