Gedichte
Gedichte sind sicher nicht jedermanns Sache. Denn ihre Form ist bereits besonders. Und auch ihr Inhalt erschließt sich oftmals nicht direkt. Dennoch scheinen sie für viele lesenswert zu sein. Denn sie können in ihrer Schönheit und Gewandheit einen neuen Zugang ermöglichen im Denken und Fühlen.
Und es gibt Texte, die beim Lesen immer wieder neu überraschen, einen inspirieren und lebendig machen können. Das möchten wir Ihnen nicht vorenthalten. Die Gedichtskunst vermag in wunderbarer Form zum Ausdruck bringen, was dem Verstand sonst möglicherweise verborgen bliebe.
Deshalb. An einer kleinen Auswahl an Gedichten, deren Sprache und möglicher Sinngehalt beeindruckend sind, möchten wir Sie gerne teilhaben lassen.
Das Urheberrecht gestattet es, Gedichte von Schriftstellern im vollen Wortlaut wiederzugeben, wenn die Autoren vor mehr als 70 Jahren verstorben sind. Bei anderen müssen wir uns mit Hinweisen begnügen. Die Rechte der Autoren haben natürlich Vorrang.
"Ein gutes Gedicht bricht die Austernschale des Verstandes auf, um die Perle darin freizulegen. Es findet Wörter für Gefühle, deren Definitionen sich allen Versuchen des verbalen Ausdrucks entziehen." (Dulcie in Benjamin Myers "Offene See ", S. 111, Köln, 2020)
Augen in der Großstadt
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
Mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück …
vorbei, verweht, nie wieder.
Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe
dein Genosse sein.
Es sieht hinüber
Und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Kurt Tucholsky
(Berlin, 1932)
Die Herrlichkeit des Lebens
Es ist sehr gut denkbar,
dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden
und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt,
aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit.
Aber sie liegt dort,
nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub.
Ruft man sie mit dem richtigen Wort,
beim richtigen Namen, dann kommt sie.
Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.
Franz Kafka
(Tagebücher, 18.10.1921)
Du musst das Leben nicht verstehen
Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
Rainer Maria Rilke
(Berlin-Willmersdorf – „Mir zur Feier“ 1898)
Einsamkeit
Was ist wahre Einsamkeit?
Sind wir einsam,wenn das Leben
Rings von Stille ist umgeben?
Wenn die rege Fantasie
Uns in schaffender Magie
Neu beseelt mit süßem Streben
Bilder der Vergangenheit?
Ist das wahre Einsamkeit?
Oder wenn in stillen Gründen,
In des Waldes heil'ger Nacht,
Sonnenglanz in reiner Pracht
Durch die leis' bewegten Wipfel,
Durch die glanzumsäumten Gipfel
Nur verstohlen blickend, lacht,
Und in den verworrnen Zweigen
Selbst die kleinen Sänger schweigen?
Oder wenn in dunklen Mauern,
In des Kerkers engem Raum,
Der Gefangene sich kaum
Darf in seinen Ketten regen,
Wenn sein Herz mit raschen Schlägen
Nährt der Hoffnung Göttertraum,
Und geteilt in Freud' und Trauern,
Ahndungen ihn tief durchschauern?
Nein, nur das ist Einsamkeit,
Wenn sich Wesen um uns drangen,
Denen nicht in zarten Klängen
Sich vernehmbar macht das Herz,
Oft voll Wonne, oft voll Schmerz
Die uns das Gemüt verengen
Durch der Langeweile Leid
Das ist wahre Einsamkeit!
Charlotte von Ahlefeld
(1781-1849)
Ende des Herbstes
Ich sehe seit einer Zeit,
wie alles sich verwandelt.
Etwas steht auf und handelt
und tötet und tut Leid.
Von Mal zu Mal sind all
die Gärten nicht dieselben;
von den gilbenden zu der gelben
langsamem Verfall:
wie war der Weg mir weit.
Jetzt bin ich bei den leeren
und schaue durch alle Alleen.
Fast bis zu den fernen Meeren
kann ich den ernsten schweren
verwehrenden Himmel sehn.
Rainer Maria Rilke
(Das Buch der Bilder 1898-1906)
Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke
(Paris, 11. September 1902)
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke
(Paris 21.9.1902)
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke
(Berlin-Schmargendorf, 20.9.1899)
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.
Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
Rainer Maria Rilke
(Berlin-Schmargendorf, 22.9.1899)
Mein Leben ist
Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,
darin du mich so eilen siehst.
Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,
ich bin nur einer meiner vielen Munde
und jener, welcher sich am frühsten schließt.
Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,
die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:
denn der Ton Tod will sich erhöhn -
Aber im dunklen Intervall versöhnen
sich beide zitternd.
Und das Lied bleibt schön.
Rainer Maria Rilke
(Berlin-Schmargendorf, 24.9.1899)
Nachbarn
Im Herbst sammelte ich alle meine Sorgen
und vergrub sie in meinem Garten.
Und als der April wiederkehrte und
der Frühling kam, die Erde zu heiraten,
da wuchsen in meinem Garten schöne Blumen,
nicht zu vergleichen mit allen anderen Blumen.
Und meine Nachbarn kamen, um sie anzuschauen,
und sie sagten zu mir:
Willst du uns, wenn der Herbst wiederkommt,
zur Saatzeit, nicht auch Samen dieser Blumen geben,
damit wir sie in unseren Gärten haben?
Khalil Gibran
(1883 - 1931)
Vorfrühling
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.
Rainer Maria Rilke
(im Muzot 20.02.1924)
Was es ist
Erich Fried
(1979)
Dich
Erich Fried
(1979)
Ohne Dich
Erich Fried
(1979)
Lob der Verzweiflung
Erich Fried
Was die Leute von ihm sagen
Wilhelm Willms
(um 1977)
Wussten Sie schon
Wilhelm Willms
(1977)
Welterobernde Zärtlichkeit
Wilhelm Willms
Nicht müde werden
Hilde Domin
(Heidelberg, 1962-1964)
Bitte
Hilde Domin
(Frankfurt-Astano/Tessin, 1957-1959)
Unaufhaltsam
Hilde Domin
(Heidelberg, 1962)
Lieder zur Ermutigung
Hilde Domin
(Heidelberg, 1961)
Abel steh auf
Hilde Domin
(1970)
Immer im Gespräch
Rose Ausländer
(um 1978)
Ja sagen
Rose Ausländer
(1976)
Nichts bleibt wie es ist
Rose Ausländer
(um 1964)
Traumsicher
Rose Ausländer
Wieder ein Morgen
Rose Ausländer
Wahrlich
Ingeborg Bachmann
(zw. 1964-1967)
Nach dieser Sinnflut
Ingeborg Bachmann
(zw. 1957-1961)