Spruchbild 64 - Schatten
Schatten
So sehr ich nachlasse, enttäusche, Erwartungen nicht erfülle, Ansprüchen nicht genüge, kann ich doch immer noch mit meinem Schatten aufwarten, der durchaus Gutes von mir aussagt.
Er ist hübsch und schlank; betrachte ich ihn, so steigt Lebenslust in mir auf, er lässt mich unzweideutig fühlen, ich sei daseinsberechtigt.
Seinen Schatten hat zwar jeder; dass dem so ist, verringert ein bisschen seine Bedeutung, aber ist nicht gerade das erfreulich?
Dass ich nachweise, was alle übrigen auf Verlangen vorlegen können, beruhigt mich enorm, zeigt an, dass ich normal bin.
Durchschnittlich zu sein, muss jeden Vernunftbegabten beglücken.
Wo Schatten existieren, strahlt auch Licht; wer einen Schatten hat, besitzt auch einen Körper.
Ganz Geist begehr’ ich nicht zu werden.
Wer anders als er erzählt mir, ich sei treuherzig, heiteren Charakters und besäße eine Dosis Witz?
Jeder meiner Bewegungen passt er sich dienstfertig an und sagt mir Schmeicheleien.
Wie alle, bin ich für letztere nämlich empfänglich.
Niemand ruft mir nach: „Er hat keinen Schatten“, wie es mit dem armen Peter Schlemihl der Fall war, der sein Köstlichstes weggab;
Fragen wie „Bengel, was fang ich nun an?“ kommen nie aus meinem Munde.
Jener floh die Sonne, mich entzückt sie.
Besser als im Leben siegen und ein Genie sein, ist ein ehrlicher Schatten.
(Robert Walser, „Schatten“, Basel, 1924)