Spruchbild 92 - Vielfalt des Seins

Vielfalt des Seins - „Wer immer nur eine und dieselbe Antwort auf alle Fragen hat, so verschieden diese auch sein mögen, der glaubt vielleicht, alles erklären zu können, hat aber buchstäblich gar nichts verstanden.“ (Stefan Diebitz) - Spruchbild
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Vielfalt des Seins

 

(…) „Denn wer immer nur eine und dieselbe Antwort auf alle Fragen hat, so verschieden diese auch sein mögen, der glaubt vielleicht, alles erklären zu können, hat aber buchstäblich gar nichts verstanden.

 

(…)  Vielleicht seit dem Anfang, vielleicht seit Mitte der 90er Jahre hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass man allen Fragen mit naturalistischen Antworten begegnen darf, weil generell alles Physik oder Chemie ist; und so werden auch die Erscheinungen des Lebens darauf reduziert. Bewusstsein zum Beispiel gilt als ein biochemisches Phänomen, denn „Gedanken entstehen aus Molekülen, Proteinen, Enzymen.“

 

Seiner Sache gewiss verrät uns der britische Physiker Ben Moore: „Gefühle sind eine molekulare Interaktion, Hormone führen dazu, dass wir uns gut fühlen oder schlecht.“

 

Noch wesentlich grobschlächtiger schreibt der niederländische Hirnforscher Dick Swaab: „So wie die Niere den Urin produziert, produziert das Gehirn den Geist.“

 

Bereits die nicht zu leugnende Tatsache, dass es ohne eine physikalische Grundlage kein Bewusstsein gibt, ist für einen Naturalisten Grund genug, alle, und das heißt wirklich sämtliche in Frage stehenden Probleme physikalisch zu nennen und in der Physik die Antworten auf schlechterdings alles und jedes zu suchen.

 

Es scheint, dass eine Gegenposition zu der Behauptung, neuronale Aktivität und Gedanke seien identisch, für gewisse Leute überhaupt nicht in Frage kommt, denn sogar gebildete Menschen, die es entschieden ablehnen würden, sich selbst als Materialisten zu verstehen, halten diese Identität für eine ausgemachte Sache.

 

Es ist ja nicht so, dass die Physik überhaupt keine Antworten geben könnte – ganz im Gegenteil, sie hat phantastische Erfolge gefeiert und tiefste Blicke in das Wesen der Materie oder die Entstehung des Weltalls geworfen.

 

Trotzdem ist sie nur für einen Aspekt der Welt zuständig, und wer tatsächlich Antworten auf alles haben möchte, der sollte sich diese wie ein Mosaik aus den unendlich vielen kleinen Bruchstücken zusammensetzen, die ihm teils die verschiedenen Wissenschaften, teils die Philosophie bieten. Oder, von mir aus, die Religionen.

 

Besser noch: Er sollte verschiedene Fäden zu einem bunten Teppich knüpfen. An diese eigentlich etwas banale Weisheit möchte dieses Buch erinnern: Die Vielfalt der Welt, also ihre Buntheit und ihr Reichtum, kann sich allein in einer Vielfalt der Antworten spiegeln.

 

Alle eindimensionalen Theorien sind zum Scheitern verurteilt.“

 

(Stefan Diebitz, in „Die Vielfalt des Seins“, aus „Der Blaue Reiter“, Hannover, 2021)